Der Bäcker aus Balsbach
Das Bäckereisterben auf dem Lande ist ein Trauerspiel. Nicht nur die großen Ketten machen den kleinen den Bäckern zu schaffen, lange Arbeitszeiten, Bürokratie und ein geringes Gehalt schreckt junge Menschen ab den Beruf zu ergreifen oder eine Bäckerei zu übernehmen. An Angeboten mangelt es nicht.
Und die RNZ schrieb im April 2023 über ein Bäckerei in Langenthal, die eigentlich alles richtig gemacht hat: Regionales, Spezialitäten, Frische und Marketing – doch der Verbraucher dankte es am Ende nicht. Bitteres Résumé der Bäckerin nach 32 Jahren hinter der Theke: “Am Ende läuft doch alles über den Preis.”
Leider keine Brötchen mehr – der letzte Bäcker in Balsbach
2. Juni 2018 – von Friederike Kroitzsch
Fast auf den Tag genau 118 Jahre ist es her, da hat Edgars Großvater hier an dieser Stelle seine kleine Backstube eröffnet. Im Mai des Jahres 1900. Edgar hat dazu sogar irgendein Dokument, irgendein Schriftstück, irgendwo, er weiß nicht, wo. Aber er weiß, dass es im Mai 1900 war, damals, als das Dorf noch kleiner war als es heute ist, als das Leben auf dem Land noch mühsam und hart war. In der vermeintlich guten, alten Zeit, die eben so gut gar nicht immer war hier im Odenwald. Um es vorsichtig zu formulieren.
Von der Bäckerei konnte der Großvater nicht leben, sagt Edgar Roos, den Lebensunterhalt hat er mit der Landwirtschaft verdient. Irgendwann war der Großvater dann zu alt, sein Sohn übernahm die Bäckerei, Edgars Vater. Und ein paar Jahrzehnte später wieder das Gleiche: Der Sohn machte weiter, als der Vater langsam alt wurde. Irgendeines der vielen Kinder musste das Geschäft ja übernehmen, und jetzt war Edgar dran. Vielleicht wurde er auch gar nicht groß gefragt, vielleicht bestimmte der Vater es einfach. 1963 war das, Edgar ging mit 15 in die Lehre, arbeitete ein paar Jahre in einem Dorf in der Nachbarschaft und kehrte irgendwann zurück. Seitdem ist Edgar Roos der Bäcker von Balsbach.
Viele treffen sich vielleicht überhaupt nur hier, sonst nirgends, man sieht sich morgens beim Brötchenholen, schon auf der Straße ein großes Hallo! oder vormittags beim Milchkaufen, man sieht sich und schwätzt, Was macht denn der Edelgard ihre Hüfte? Gehts dem Erwin besser? Hast Du ein neues Auto?, Ist das Enkelkind schon geboren?, und dann geht wieder jeder seiner Wege, raus aus dem Dorf, zum Job, und abends heim.
Seit 55 Jahren also steht Roos morgens in der Backstube. Wobei: Was heißt morgens? Eher mitten in der Nacht, wenn es draußen noch dunkel ist, wenn es vielleicht gerade mal dämmert, selbst im Hochsommer. Wenn alle anderen im Dorf noch tief schlafen und allenfalls vom Frühstück träumen. Wenn noch nicht einmal die ersten Vögel singen.
Dann steht Edgar Roos in der gekachelten Backstube und knetet und rührt, schlingt und formt, schießt Brote und Brötchen ein, öffnet Klappen, dreht an Schaltern, guckt, prüft, rollt Wagen voller Bleche hin und her, wuchtet Schieber in den Ofen, schwitzt. Heiß ist es in der Bäckerei, und winters wie sommers ist Edgar hier nur kurzärmelig unterwegs. Seine Frau unterstützt ihn, sie ist mit ihm in der Backstube, hilft, richtet den kleinen Laden, bevor ab halb Sieben die ersten Kunden kommen.
Seine Schwägerin hilft auch, wir sind eben so eine Art Familienunternehmen, sagt Roos, die Brote und Brötchen müssen nicht nur in die Verkaufskörbe im Lädchen, sondern auch in die Tüten, die später ausgefahren werden, im Dorf und im Dorf nebenan. Im Nachbardorf beliefern wir fast jedes Haus, sagt Roos, es ist eine mühsame Tour mit dem Auto, jeden Morgen, von Tür zu Tür, jedem das, was er bestellt hat.
Und dann ist da ja noch das winzige Lädchen, vorne dran. Eine Mischung aus Bäckerei und guter alter Tante Emma, wie die Backstube selber ein Teil des Wohnhauses. Hier können die Leute kaufen, was sie unterwegs beim Großeinkauf vergessen haben, Milch und Joghurt, Butter und Sahne, Brühwürfel und Fliegenklatschen, Schulhefte und Streichhölzer, Haarshampoo und Schokoriegel, Saure Gurken und Karottensalat im Glas. Es ist eines dieser Lädchen, die wie aus der Zeit gefallen wirken und gleichzeitig ein Segen sind. Weil der nächste Supermarkt mehrere Kilometer entfernt ist, und weil man hier auch immer jemanden zum Schwätzen trifft.
Es kommen vielleicht immer die selben zur selben Zeit, der Alltag ist durchgetaktet, und nach einigen Brötchenkäufern könnte ich morgens meine Uhr stellen, so pünktlich fahren sie mit dem Auto vor. Ich stelle mir vor, sie treffen sich hier jeden Morgen und können so die Fäden ihrer Beziehungen immer weiterknüpfen, jeden Tag, vielleicht ganz unverbindlich, aber immerhin. Man sieht sich, im wahrsten Sinne des Wortes.
Noch bevor der Sommer zu ende geht, wird Schluss sein. Mit der Bäckerei und dem Lädchen. Nach 55 Arbeitsjahren und einer fast 120jährigen Tradition. Roos wird bald 70, da darf ich wohl in den Ruhestand, sagt er. Aus der Familie will niemand die Tradition fortsetzen.
Wird ihm nichts fehlen? Das Backen und Kneten, die morgendliche Arbeit alleine in der warmen Backstube? Nein, sagt er, und die Antwort kommt so schnell und entschieden, dass man ihm glauben muss. Wir haben auf so Vieles verzichten müssen, immer das frühe Aufstehen, jetzt ist mal was anderes dran, sagt seine Frau. Die drei Enkelkinder, vielleicht Ausflüge oder mal Reisen, vielleicht einfach mal öfter ausschlafen.
Die Backstube, das Lädchen, alles soll dann ausgeräumt werden. Ausgeräumt und aufgelöst. Vielleicht wird der Platz neu genutzt, vielleicht fallen die Arbeitsräume mit ihrer langen Tradition dann einfach in einen Dornröschenschlaf, ich habe nicht danach gefragt. Weiterverpachten geht nicht, zu eng sind Lebens- und Arbeitsräume miteinander verbunden, architektonisch und überhaupt, Leben und Arbeit, das war über 55 Jahre vermutlich ein und dasselbe. Edgar und seine Frau wohnen oben im Haus, und unter ihnen, im Erdgeschoss, bleibt das Licht dann eben ersteinmal aus und die Tür zu.
Nein, ihm wird nichts fehlen, sagt Edgar nochmal.
Mir schon.
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