1. Literaturtag Wagenschwend

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Erster Literaturtag im Museum Wagenschwend:
Markus Ostermair beeindruckt mit Lesung und Einblicken in neues Werk
“Literatur und Provinz sind Komplizen”

Von Klaus Brauch-Dylla

Wagenschwend, bd. Während in Frankfurt gerade die 77. Buchmesse läuft, war am Wochenende im Museum Wagenschwend Literatur mitten in der Provinz zu erleben – mit klarem Blick auf Praxis und Aufgabe der Literatur. Der „1. Literaturtag Wagenschwend“ stieß auf rundum positive Resonanz und dürfte, so das Fazit seines Initiators Prof. i.R. Dr. Clemens Pornschlegel, sicher wiederholt werden. Im Workshop der literaturwissenschaftlichen Arbeitsgruppe „ars militans“ der LMU München stand zwei Tage lang das Verhältnis der literarischen Moderne zur Provinz im Zentrum. Die zehn Teilnehmenden, Dozenten und von Pornschlegel betreute Doktorand*innen, haben sich einer kämpferischen, gesellschaftlich wirksamen Kunst verschrieben.

Eröffnet wurde der Lesungsabend am Samstag von Museumsleiter Gerhard Schäfer, der Pornschlegel für Idee und Umsetzung dankte. Dieser stellte den rund 30 Gästen im MuWa und etwa 60 Zuschauer*innen im Livestream kurz die Arbeitsgruppe vor, die sich in der Tradition von Büchner, Döblin, Brecht oder Elfriede Jelinek sieht. Arbeitsgruppenmitglied Simon Schkade berichtete über die Ergebnisse des ersten Konferenztages.

Im Mittelpunkt stand die Lesung des Münchner Autors Markus Ostermair, der eingangs Passagen aus seinem preisgekrönten Roman „Der Sandler“ präsentierte – nach Pornschlegel „einer der besten München-Romane überhaupt“. „Sandler“ ist eine österreichisch-bayerische Bezeichnung für Obdachlose; deren Leben beschreibt Ostermair anhand verschiedener Protagonisten rund um den Münchner Hauptbahnhof. Schwerpunkt seiner Lesung war ein Kapitel um die Figur Mechthild, eine vielschichtige Obdachlose, die sich mit kahlrasiertem Kopf inszeniert, damit heraushebt und verletzlich macht. Um ihrer Alltagsrealität zu entfliehen, greift Mechthild zu den „Strohhalmen der großen Fragen”, auch im Gespräch mit der Bahnhofsmission. Ostermair schilderte eindringlich, welchen Zumutungen obdachlose Frauen ausgesetzt sind – von Anmache bis Aggression. Er entreißt seine Figuren gängigen Klischees und löst Nachdenken aus.

Dass “Der Sandler” inzwischen Referenzwerk ist, bestätigen Stimmen des Feuilletons: „Wann hätte je ein literarischer Text das Leben auf der Straße so tief beleuchtet?“, fragte Alex Rühle (SZ). „An diesem Roman wird es lange Zeit kein Vorbeikommen geben“, schrieb Michaela Maria Müller (taz). Und Peter Helling (NDR) urteilte: „Selten kommt man obdachlosen Menschen so nah.“

In seiner Laudatio zum Tukan-Preis hatte Pornschlegel Ostermairs „Realitätswahrnehmung“ gewürdigt. Literatur, so Pornschlegel, mache „das widerspenstig Reale“ sichtbar und gebe jenen Menschen eine Stimme, die sonst als „geschichtslose Nebenfiguren“ erscheinen. Auch in Wagenschwend betonte Ostermair: „Literatur muss dorthin schauen, wo die Menschen verstummen.” Dass sein Debüt lange keinen Verlag fand, lässt kritisch auf den Literaturbetrieb blicken – heute liegt die vierte Auflage vor.

Nach der Passage aus dem „Sandler“ gab Ostermair Einblicke in sein neues Schreibprojekt. Es führt in die bayerische Provinz zur Jahrtausendwende, auf einen Milchviehbetrieb, ein Umfeld, das er aus Kindheit kennt. Mit Detailtreue beschreibt er Arbeit, Ausgeliefertsein an Natur und endlose Aufgaben. Kapitel tragen Titel wie „Hier hilft ein Mengele-Heugreifer“. Offen sprach Ostermair über die Mühen des Schreibens: Nach dem Erfolg des Debüts sei es schwer, Erwartungen zu erfüllen. Einen bloßen Fortsetzungsroman wollte er nicht liefern. Gerade diese Ehrlichkeit wirkte authentisch. Viele Zuhörerinnen und Zuhörer mit eigener Landwirtschaftsbiografie fanden sich in den Schilderungen wieder. Nähe entstand zwischen Autor und Publikum – etwa bei der Frage, ob es auf einem Hof Zeit zum Lesen gebe. Ostermair selbst kam erst im Zivildienst in München zum Lesen und fand über zweiten Bildungsweg und Studium den Weg in die Literatur.

Der Literaturtag, kurzfristig in das Jubiläumsprogramm „50 Jahre Gemeinde Limbach“ integriert, übertraf die Erwartungen: ungekünsteltes Interesse an Literatur, kluge Fragen, keine Spur von Dünkel. Das Museum erwies sich als idealer Tagungsort. Fazit des Initiators: „Literatur und Provinz sind Komplizen.“

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